Foto: Ludovico Lovisetto


Venezia


Reisen in die nahe Fremde. Veneto - Friaul - Julisch Venetien. Auch Istrien und Dalmatien werden hier aus historischen Gründen thematisiert.




Carnevale 2019

Abfahrt 5 Uhr 15 früh, Isartorplatz Ecke Frauenstrasse, München. Der Busfahrer heisst Wolfgang.

Nach 9 Jahren bin ich wieder mal in Venedig. Mit Sophie und Gianni. An den Hotspots des Massentourismus drängen sich tausende von Menschen. Rialtobrücke, Markusplatz, Dogenpalast. Die volle, reiche Pracht. Der Tourismus zerstört seine eigenen Sehnsuchtsorte.
Doch kaum zehn Fußminuten entfernt:  Eine melancholische, morbide, vor sich hin bröckelnde, sehr alte Stadt. Ziemlich teuer dort, wo neureiche Chinesen ihre Selfies machen. Ein Schoppen Bier 4 Euro, 0,4 Liter 6,50. Mittagmenue zwischen 20 und 40 Euro, Skala nach oben offen. Die Reise selbst war dagegen ein Schnäppchen. 59 Euro hin und zurück mit  Busreisen Ettenhuber aus Glonn, Landkreis Ebersberg. Mit den Ettenhubers bin ich übrigens durch meinen bayerischen Opa entfernt verwandt. Die Einfahrt für den Bus kostet 310 Euro Tagespauschale. Wohlgemerkt, nur die Einfahrt. Abgerechnet werden die Parkgebühren stundenweise extra, bei Abfahrt. Ab Mai will die Stadt pro Besucher und Tag 3 Euro verlangen. Bei grossem Andrang auch bis zu 10 Euro täglich. Vorerst noch. Weitere Gebühren sind schon angedacht von den Stadtvätern der Serenissima.
Das 24-Stunden-Ticket für alle öffentlichen Bootslinien ist dagegen mit 20 Euro ziemlich günstig, wenn man bedenkt, dass Einzelfahrten mit 7,5o zu Buche schlagen. Zudem ist das Ticket eine Gratis-Eintrittskarte für`s Casino di Venezia, die örtliche Spielbank. Dort, im prachtvollen Palazzo Vendramin-Calergi ist Richard Wagner gestorben, dort hat er seinen "Parzival" komponiert. Der Palast wurde um das Jahr 1500 erbaut.   #Siehe auch Themenseite "Europa", Beitrag "Wagner & Walhalla. Der Fim"

Wir versuchen, dem großen Trubel zu entkommen. Vom Anleger Arsenale aus ein kleiner Spaziergang bis zum Campo do Pozzi. Und wie der Platz heißt auch die kleine Osteria dort. Specialita venezianne. Vini, Spritz e tanto altro.
Ein freundliches, hilfsbereites Mädchen, ganz im matten Schwarzton  ihrer Haare gekleidet, bietet an, auch was Anderes zu kochen, als auf der schwarzen Tafel neben dem Eingang unter Tagesgerichte steht. Über den Preis könne man reden, bei einem Glas Hauswein, dalla casa, weiß oder rot.
Es ist hier jedenfalls preiswerter als zum Beispiel im L'Ancora, meinem münchner Stamm-Italiener in der Schleißheimer Straße, eher schon Milbertshofen als Schwabing-West. Kann sein,daß sich das Lächeln unserer jungen, schlanken Gastro-Madonna vom Campo do Pozzi in der Hochsaison verliert, im Stress des Alltags. Ihre Email ist jedenfalls ganzjährig  osteriaaidopozzi@pec.it.
Nach einigen Stunden Stadtspaziergang voller Staunen, Lachen und Träumen wird es sehr kalt. Nasser Wind von der Lagune her. Erstaunlich viele Menschen sind maskiert, die meisten im Stil der Comedia dell'Arte. Stopp in der nächsten Bar. Da Dino. Sestiere Campo Duro. Außer uns sind hier nur Venezianer. Alt, jung. Maskiert, in Markenklamotten. Manche sehr elegant, manche eher ärmlich. Second hand vielleicht, aber voller Grandezza . Sogar die Polizisten mit ihren auf Taille geschnittenen Uniformen, die gelegentlich auf einen Ombra, Absacker, oder Espresso im Stehen vorbei schauen, wirken wie gutaussehende,  sportliche Cäsarensöhne, nicht wie deutsche Ordnungshüter auf Streife.
Ein Liter Hauswein aus der Karaffe, spritzig-fruchtig, 16Euro. Lustig ist die Toilette.  2 Quadratmeter. Kein Schild an der Tür. Für Männer, Frauen und Diverse  gleichermaßen. Keine Genderdebatte erforderlich. Manchmal bilden sich Schlangen. Man scherzt miteinander. Nicht alles ist jugendfrei oder politisch korrekt. Der Barmann gibt uns seinen WLan-Code.  

Vielleicht kommen wir im Sommer nochmal vorbei. Jetzt, in den ersten Märztagen, haben wir absolut nichts getan, was gemeinhin so von Touristen erwartet wird. Es gäbe hier so viele Schätze zu heben, aus Kunst, Kultur, Küche...aber nur Sehen und Hören ist ein guter Anfang.

Übrigens, waren Sie schon mal, sagen wir, in Rosenheim?  Von der Einwohnerzahl her hat es etwa die Größenordnung des historischen Venedig. Nichts  gegen Rosenheim.....

-btk-





IHRE MEINUNG IST UNS WICHTIG! BITTE KOMMENTIEREN SIE BEI
info@bobbys-bazaar-bayern.de

Venezia

Wenn die Welt ein Körper wäre, wäre Venedig das Herz.

Durchzogen von Wasseradern, tobt das Leben auf der hochglanzpolierten, touristischen Seite.

Im Hintergrund werden die Gassen dunkler und stiller.

Verwinkelte Ecken.

Fenster, von denen die Farbe blättert.

Sonnenblumen, die aus Blumenkästen in den Himmel ragen.

Tritt man aus der Stille in den bunten Trubel

wird man mitgerissen

bis man dort landet

wo man sein soll.

Man muss sich treiben lassen.

Venedig lässt sich nicht berechnen und koordinieren.

Genau wie das eigene Herz.

Sophie Leonie Appl

Ein kobaltblauer Aschenbecher

In Venedig war ich öfter als in Düsseldorf.


Meine erste Liebe zur Serenissima ist blaukristallen und bleischwer. Mit silberner Intarsie. Jungfräulich, was die eigentliche Bestimmung betraf: ein nie benutzter Aschenbecher, jahrzehntelang zur Dekoration in der guten Stube des Bankbeamten Balthasar, exakt in der Mitte eines Häkeldeckchens auf dem Sideboard drapiert. Balthasar, mein Onkel, hatte ihn von der Hochzeitsreise mitgebracht. Anfang der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Sein verklärtes Souvenir aus Venedig. Erinnerung an eine Zeit, als die Lagunenstadt für mich als kleines Kind im bayerischen Hinterland noch ein ferner, unerreichter Sehnsuchtsort war. Er stand in einem Wohnzimmer, dessen Einrichtung Elemente von Bauernstube und Gelsenkirchener Barock entschlossen zusammen führte. Die innenarchitektonische Symbiose der frühen Adenauerzeit. Später ergänzt durch den furnierten Phono-Radio-Fernsehschrank von Grundig mit 10-Plattenwechsler. Außen pfundig, innen Grundig, lästerten die Neider. Sie mußten auf eine solche Truhe noch eine Weile ansparen.


Wenige Jahre nach dem verlorenen Krieg erst, und Balthasar erstieg die Karriereleiter vom Kassenschalter in die Direktionsetage eines großen Geldhauses. Sein Notabitur hatte er als Flakhelfer gemacht. Alliierte Bomber abzuschießen zählte 1943 und 44 für einen 15- oder 16jährigen deutschen Buben mehr als humanistische Bildung und gute Noten.

Der Aschenbecher diente als Anschauungsmaterial und zugleich handfester Beweis für die erste Auslandsreise nach dem völligen Zusammenbruch des Großdeutschen Reiches, die ein Mitglied der großmütterlichen Familie unternommen hatte. Sich die Reise leisten konnte. Das spätere deutsche Wirtschaftswunder schimmerte hinter der dunklen Bedrohung durch den gleichzeitig geführten Koreakrieges schon hoffnungsfroh.

Staunen erregte der Preis des Rauchutensils, erstanden bei einem Bootsausflug nach der Insel Murano. Respekt nötigten ab Beredsamkeit und Hartnäckigkeit des Onkels beim Drücken dieses als schieren Wuchers empfundenen Geldbetrags.

Den Aschenbecher in beiden Händen wiegend, berichtete Balthasar immer wieder von der beschwerlichen sechstägigen Busreise über die Alpen und zurück. Dogenpalast, San Marco, Rialto, Seufzerbrücke. Unfassbares Licht und fauliger Gestank über dem Canale Grande. Und siehe, die Sonne Homers, sie lächelt auch uns! Italienische Reise, Johann Wolfgang von Goethe. Zypressen, Oliven, Gondeln, Paläste. Für mich der Beginn eines Traums. Dort wollte ich hin. Auch an andere, unbekannte Orte, wo weder Balthasar noch Johann Wolfgang je gewesen. Höchstens mein Großvater mütterlicherseits in beiden Weltkriegen. Balthasar war sein erstgeborener Sohn, er selbst hieß Melchior und war noch viel weiter fort. 1914 bis 1918 und 1939 bis 1945. Bewaffnet. Unbewaffnet, ohne Uniform, blieb er immer daheim in seinem vertrauten Hinterland. Der zweite Sohn, er wurde nach Hitlers Machtergreifung geboren, bekam keinen biblischen Namen mehr. Er heißt Adolf, was während der amerikanischen Besatzungszeit nach 1945 nicht so günstig war. Melchior und Balthasar, Vater und erster Sohn, waren gute Soldaten, fleissig und katholisch. Balthasar sollte später mein Firmpate werden und mir eine Junghans-Uhr mit Metallarmband schenken. Diese Uhr habe ich bis 1976 getragen. Dann landete sie, bedingt durch die Umstände, im Indischen Ozean.  Mehr dazu #Bazillus Afrikanus, Themenseite Furaha. 

R.I.P. Balthasar ist 2018 verstorben


-btk-




IHRE MEINUNG IST UNS WICHTIG! BITTE KOMMENTIEREN SIE BEI
info@bobbys-bazaar-bayern.de      


Venezia 1968. Mit Eva Maria und Theodor

Villa Eva Maria Quisisana. Ehedem ziemlich luxuriös. Jetzt ein heruntergekommener Patrizierpalast am Lido di Venezia. Unser Quartier für zwei Wochen. Stuck, Marmor, bißerl bemalter Gips, Gobelins, Mosaiken. Ausgesucht für eine österliche Bildungsreise, nicht nach Zustand der reichlich durchgelegenen Matratzen in dunklen Mahagonybetten, sondern des Namens wegen. Eva Maria. Der Name meiner Lieblingstante. Vor dem Ersten Weltkrieg geboren als Ewa Maria Kazimierska im Schatten der Marienburg, die damals auf dem Territorium des Königreichs Preußen lag. Südöstlich von Danzig, über dem Ufer der Nogat, unweit der Weichselmündung in die Ostsee. Eva Maria, die große Schwester meines Vaters Franz Paul, der seinerseits als Kind die polnischen Vornamen Francizek Pawel trug. 
Theodor, der Mann von Eva Maria, hält täglich nach dem obligatorischen Espresso doppio im Cipriani nahe dem Markusplatz ein Kolloquium. Diesmal über die Ordensritter, die den Namen der Muttergottes Maria als Erste in Polen populär gemacht haben.

(.....jetzt muss ich mit Franceska einen Happen essen, dann rasier ich mich und geh zur Basistour von Ministerpräsident Markus Söder. Morgen schreib ich weiter. Heute ist Dienstag, 26. März 2019....)

Die "Brüder vom Deutschen Haus Mariens in Jerusalem" betrieben zur Zeit der Kreuzzüge ein Hospital im Heiligen Land. Am Ende wechselvoller Schlachten im Orient endgültig gescheitert, bezogen die Kreuzritter nach einigen Irrwegen ein neues Hauptquartier in Venedig. Tatsächlich waren sie arbeitslose Helden, tatendurstig und schwerreich. Eine neue Aufgabe fanden sie schließlich, nach mißglückten Versuchen, in Siebenbürgen Fuß zu fassen, in Polen. Kampf gegen die heidnischen Pruzzen und Litauer. Missionsarbeit mit Schwert und Bibel, an der Seite ihrer katholischen polnischen Lehensherren und Waffenbrüder. Einer der ersten Stämme, die sich zum Christentum bekehrten, waren die Tolken. Sie dienten polnischen Kriegern und Ordensleuten als Pfadfinder und Dolmetscher in den Sümpfen von Masurien und der Pripjetregion. Noch heute gibt es in Ostpreußen eine kleine Ansiedlung, die bis 1945 Tolksdorf hieß. Angeblich geht der Name Tolksdorf, den ein Teil meiner Familie väterlicherseits noch heute trägt, auf die pruzzischen Tolken zurück, die sehr rasch germanisiert wurden. Heute lassen sich keine Spuren ihrer Kultur mehr finden. Die schon seit der Zeit um das Jahr 1000 nach Christus katholischen Piastenkönige der Polen und später ihre jagellonischen Nachfolger waren froh um die Mitstreiter in ihren langen weißen Mänteln, die an der linken Schulter von einem großen schwarzen Kreuz geziert waren.

Der Ritterbund wandelte sich zum Deutschen Orden. Aus einem polnischen Lehen entwickelte sich der Ordensstaat, der von Pommerellen bis nach Riga herrschte, von der Weichselmündung bis zum finnischen Meerbusen. Die Marienburg wurde zu ihrem schwer befestigtem Hauptsitz.  Aus dem Kreuz ihrer Mäntel entwickelt sich auf mancherlei heraldischen Umwegen das "Eiserne Kreuz", der Kriegsorden für Tapferkeit in Preußen, gestiftet in den Befreiungskriegen gegen Napoleon, im Zweiten Deutschen Kaiserreich und schließlich auch in Hitlerdeutschland. Die Nazis ergänzten das "Eiserne Kreuz" mit einer kleinen Swastika, dem Hakenkreuz ihrer Bewegung.

Onkel Theodor war längst nicht am Ende seiner Ausführungen, als Tante Eva Maria und ich von Espresso zu Prosecco und Campari wechselten.

Theodor erörterte soeben die Entwicklung bis zur Schlacht von Grunwald, das die Deutschen Tannenberg nennen. Deutscher Orden und Königreich Polen waren innerhalb weniger Generationen von Waffen- und Glaubensbrüdern zu erbitterten Feinden geworden. In Grunwald besiegten die polnisch-litauischen Heere erstmals die mächtigen Ritter.

Da drängt sich, laut, hysterisch schreiend, ein Zeitungsverkäufer mit Extrablättern durch die Stuhlreihen. "Attentat, Mord, Faschismus, Nazis, Streik, Revolution!" Wir verstehen nicht alle Worte seines stark venezianisch gefärbten Italienisch.
Theodor fühlt sich gestört, bricht seinen Vortrag ab, Für ihn gibt es jetzt Espresso corretto, mit Grappa. Ich bin 20 Jahre alt, Student in München und Salzburg. Theodor hat einen Lehrstuhl für Rechtsphilosophie. Ein klassischer Vertreter der Ordinarienuniversität. "Unter den Talaren, der Muff von 1000 Jahren!" Das war einer der populärsten Sprüche der Außerparlamentarischen Opposition, der von Studenten geführten APO jener Zeit. Das Extrablatt verkündet, daß in Berlin ein Attentat auf Rudi Dutschke, einen der lautstärksten und radikalsten Wortführer der APO, verübt wurde. Ist er tot? Meine Italienischkenntnisse reichen nicht aus, um das Extrablatt wirklich lesen und übersetzen zu können. Der Deutsche Orden zwischen Jerusalem, Venedig und Marienburg ist mir schlagartig vollkommen egal.
Zu Ostern verändert sich die Stadt völlig. Transparente. Überall Demonstrationen,  die mächtigste mit Schiffen jeglicher Bauart auf dem Canale Grande. Sogar Boote der schwimmenden Müllabfuhr und Gondeln sind darunter. Flugblätter werden verteilt. Touristen, von denen diese Stadt maßgeblich lebt, stehen alleingelassen und verstört in kleinen Grüppchen herum. Allgegenwärtig rote Fahnen, manche mit Hammer und Sichel und Sowjetstern. Schwarze Fahnen der Anarchisten und von syndikalistischen Gruppen. Grünblaues Meer, azurblauer Himmel. Keine Wolken. Canaletto-Bilder und Aufruhr.
Stunden-,  tageweise wird tatsächlich gestreikt für einen Westberliner Studentenführer, der aus der Evangelischen Jugendbewegung der DDR kam und zum SDS-Chefideologen der 68er-Bewegung  in der alten Bundesrepublik aufstieg. Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) war die wegen Linksabweichung verstoßene Studentengruppe der SPD. In weniger turbulenten Zeiten galt er für junge Karrieristen wie den späteren Bundeskanzler Helmut Schmidt als Sprungbrett in die große Politik. In den unruhigen 60ern ersetzte die gute alte Tante SPD den SDS durch den SHB, den Sozialdemokratischen Studentenbund. Auch dieser radikalisierte sich sehr rasch und lieferte bald, ähnlich wie die Studentengruppe der FDP, der Liberale Studentenbund Deutschlands, abgekürzt LSD (hi, hi, hämte manch drogenaffiner Zeitgenosse...) Anleitungen zum Bau von Molotowcocktails.
Heute ist bekannt, daß ausgerechnet die spießig-totalitäre DDR die antiautoritäre Bewegung maßgeblich unterstützt hat, genauso wie reiche und zahlreiche Mitglieder des linken bundesrepublikanischen Establishments. So der SPIEGEL-Herausgeber und damalige Mehrheitsinhaber Rudolf Augstein. Ein Polizist namens Karl Heinz Kurras, der beim Schahbesuch in Westberlin den Studenten Benno Ohnesorg nicht etwa, wie von den Behörden behauptet, aus Notwehr oder unglücklicherweise erschoß, sondern kaltblütig ermordet hat, stand auf der Soldliste der ostdeutschen Stasi. Bis heute hochgeschätzt Literaten, Hans Magnus Enzensberger ("Kursbuch") zum Beispiel, oder Peter Schneider ("Das Fest der Mißverständnisse"),  gehörten zur Speerspitze der scheinbar unaufhaltsamen (Kultur?) Revolution. Auch Schneider kontaktierte damals die Stasi. Martin Walser, der schreibende Großmeister vom Bodensee, war Mitglied in der Deutschen Kommunistischen Partei, DKP von Gnaden der DDR, finanziert nicht zum geringsten Teil aus Zwangsgebühren jener Bundesbürger, die über die "Interzonen-Autobahn" nach Westberlin reisten. Auf seine alten Tage geriet er fast in Faschismusverdacht, wegen einer Rede, durch die sich wohlmeinende Menschen aus der, wie Walser andeutete, Holocaust-Verwertungsindustrie angegriffen fühlten. Gudrun Enßlin, Tochter aus pietistisch-protestantisch-schwäbischem Pfarrhaus, sollte über das Wahlkampf-Kontor der SPD, wo sie sich wohl langweilte, schließlich als Revolverbraut von Andreas Baader zur Terrorgruppe RAF finden. High sein, frei sein, Terror muß dabei sein. Eine etwas verquere Bonny and Clyde-Version der marxistischen Weltrevolution. Im gleichen SPD-Kontor wie Enßlin trommelte an prominenterer Stelle Günther Grass, der große, stets rechthabende Moralist. Seinerzeit verbarg er sorgsam, daß er als junger Mann in der Waffen-SS diente. Erst nachdem er die Weihen des Literatur-Nobelpreises unwiderruflich empfangen hatte, also Jahrzehnte später, wagte er sein biographisches coming out.

Wie auch immer. Der Plan des österlichen Bildungsurlaubs war gescheitert. Um den venezianischen Turbulenzen zu entgehen, machten wir einen Ausflug nach Ravenna. Zum Grabmal der Galla Placidia und zu dem des Großen Gotenkönigs Theoderich. Dort, in einem kleinen Laden unweit von San Vitale, fand ich jene Schallplatten von Chet Baker, die in München immer "vergriffen" waren, seit dieser begnadete Jazztrompeter kurz vor einem im Deutschen Museum geplanten Konzert wegen Drogenmißbrauchs verhaftet worden war. Heroin. Art Blakey und Thelonius Monk gab es auch, die gesamte Blue Note Gallery der Nachkriegszeit. Ich kaufte alles.

Bei der letzten Fahrt mit dem Vaporetto zum Bahnhof in Venedig fielen mir einige rot und  schwarz beflaggte Gondeln auf. Ohne Touristen. Ciao, Serenissima...Eine Mahnwache sang "Avanti popolo, alla ricossa, bandiera rossa la trionfera...Bandiera rossa la trionfera.."     Der Text endete: "Evviva communismo e la liberta!" Die Rote Fahne des Kommunismus wird triumphieren...es lebe der Kommunismus und die Freiheit!

So irrten wir uns. Kollektiv. Ein nicht unwesentlicher Teil unserer Jahrgänge. Theodor irrte nicht. Er war alt, analytisch denkend, humanistisch gebildet. Er hatte zwei Weltkriege erlebt, als Kind und als erwachsener, aber dennoch junger Geisteswissenschaftler. Wie wir heute wissen, ist alles anders gekommen. Vielleicht war es nie so, wie wir glauben, es erlebt zu haben. Erlebt haben wir allenfalls künftige Möglichkeiten oder nicht einmal diese. Theodor fragte mich nach den "Topoi", den Tatsachen und Begriffen, die meinem Denken und Verhalten etwa zugrunde lägen. Er fragte, was außer rhetorischen Modellen, außer Parolen, meine Überzeugungen begründen könne. Es gelang nicht. Ich war eine zugleich zornige, hilflose und lächerliche Figur. Ein zeitungslesender Zeitgenosse, der Zeit ausgeliefert.
Ich war und bin Theodor dankbar, daß ich an diesen Ostertagen lernen durfte: Ideologien sind intolerante Ersatz-Religionen aus der Zeit nach der europäischen Aufklärung. 
Zurück in München. Ein respektvoller Händedruck für den Onkel. Umarmung und französische Küsse für Eva Maria.

Später, in der Türkenstraße. Der Türkenhof war damals noch nicht so schick, wie heute. Holztische und revolutionär billiges Bier.   Finstere und traurige Gesichter. Der bei den Osterunruhen vor dem Buchgewerbehaus zu Tode gekommene Fotograf war öfter bei uns gesessen. Ein kluger, meist lustiger Kerl. Im Buchgewerbehaus in der Schellingstraße wurde eine Teilauflage der BILD-Zeitung gedruckt. Wegen der Hetze dieses Blattes - vor und nach den Osterunruhen und nach dem Dutschke-Attentat    - gegen die ungewaschenen, arbeitsscheuen studentischen Gammler die Demo dort. Der SDS in Berlin hatte es nach dem Anschlag auf Rudi so formuliert:"BILD schießt mit!"

-btk-




IHRE MEINUNG IST UNS WICHTIG!
BITTE KOMMENTIEREN SIE BEI
info@bobbys-bazaar-bayern.de

CANTARE, BALLARE, OH, OH, OH, OOOH !





Die Italienerinnen tanzen alle Tango, egal, was die ziemlich gute Liveband so spielt. Natürlich darf man nicht verallgemeinern.  Nur die meisten, im Alter von drei bis dreiundsiebzig.  Dieses Land ist kinderfreundlich. Und Senioren werden nicht ausgegrenzt, sondern respektiert.  Selbst, wenn sie sich lächerlich machen. Die Enkelkinder auf der Tanzfläche machen sich nicht lächerlich. Sie sind süss. Die Band müht sich gerade mit den Sixties ab. Die Italienerinnen tanzen Tango zu Cliff Richard, Beatles, Stones und Kinks. Wie schon eingeräumt, nicht wirklich alle. Und eigentlich tanzen sie engen  Discofox, aber es sieht aus, als tanzten sie Tango. In den Schenkeln. Jetzt kommen Rocco Granata und Rita Pavone. Oh Gott, sind wir alt  geworden....

Die Österreicherinnen sind ganz auf Walzer. Kein Klischee,  kein Macho-Vorurteil eines frustrierten Piefkinesen, wie der österreichische Begriff für West- und Nordgermanen mit deutschem Pass lautet. Natürlich darf man nicht verallgemeinern. Sagte ich ja schon. In Wirklichkeit tanzen die Österreicherinnen zu jeglicher Musik einen Dorf-Disco-Fox, der ausschaut, als würden sie gerne Walzer tanzen.


Die deutschen Frauen tanzen auch Disco-Fox, etwas langsamer die jüngeren, etwas schneller die älteren. Die jüngeren können dann besser schmusen, die älteren zelebrieren ihre Fitness. Kommt übrigens beides gut. Jüngere, das heißt hier: Ü 30 bis knapp Ü 60. Die einen flott, die anderen sehr mutig. Die wirklich jungen deutschen Mädels schlafen noch und werden zirka 1 Uhr morgens in einen zirka 40 Kilometer entfernten, wirklich geilen Club fahren.


Frauen aus anderen Nationen, glaube ich, würden auch gerne tanzen. Aber die Schönheiten z.B. aus Albanien, Rumänien oder Afrika südlich der Sahara müssen gleich nach Anbruch  der Dunkelheit zum Anschaffen. Und die Schönheiten z.B. aus Irland, Lettland, Litauen müssen schlicht arbeiten im Binnenmarkt Europa, wegen der Wirtschaftslage daheim. Also Kellnern, Putzen,  Animateur im Ferienclub spielen,  vielsprachige Infopoints besetzen und so.


Die wenigen Engländerinnen können nicht tanzen. Das heißt, tanzen könnten sie schon, aber sie können nicht wirklich, weil sie, schmerzgepeinigt und von dicken Schichten antibakteriellen, kühlenden Gels bedeckt, in abgedunkelten Räumen ihre schweren Sonnenbrände kurieren.


Russinnen  gibt's hier keine. Die verbringen ihren Urlaub nicht an der Adria. Sondern in Marbella oder Monte Carlo oder in Abu Dhabi, wenn sie Geld haben. Oder müssen, weil ihre Männer nach dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus nicht rechtzeitig genug ehemaliges Volkseigentum gestohlen haben, sowieso zu Hause bleiben. Keine Rubel, keine Reise.


Die Beachparty ist ganz schön abgefahren. Musikalisch so was wie die Top 100 aus fünf Jahrzehnten.  Allerdings nur Mainstream. Dazwischen die Sieger der San Remo Festivals von 1962 bis 2012. Dazu ein bisserl Spider Murphy Gang und Marius Müller-Westernhagen. War ja früher mal der berüchtigte Teutonengrill hier. Und mehrfach, auf besonderen Wunsch einer landsmannschaftlich festgefügten und ziemlich trinkfesten Gruppe,  Herbert Grönemeier. Booochum! Die Ruhrpott-Kanaken,  gemeinsam sind sie wirklich stark. Brüder, zur Sonne! Das mit der Freiheit hat sich im rundum sorgenden Sozialstaat so ziemlich von alleine erledigt. Besser ne bürokratische Gutmenschen-Erziehungsdiktatur,  als gar keine Kohle. Hauptsache, es reicht, um mal richtig die Sau rauszulassen im Campingurlaub.


Egal, wo die Tänzerinnen herstammen mögen, egal, welchen Tanzstil sie jeweils zeigen, eines bleibt den ganzen Abend und die halbe Nacht gleich: zirka 94 Prozent der Menschen auf der Tanzfläche sind weiblichen Geschlechts.  Aber 100 Prozent der zahlenden Gäste sind Männer. Höchstens sechs Prozent von denen tanzen. Freiwillig. Und in der Regel bemerkenswert gut. Das wiederum finden fast alle Frauen bemerkenswert sexy und zeigen das auch. Die anderen sind entweder Lesben oder mit einem eifersüchtigen Partner da. Oder sie haben sich, weil ihr Partner sich gar nicht oder allenfalls so hölzern wie Pinocchio bewegt, schon einen der Typen aus der Sexy-Sechs-Prozent-Minderheit gekrallt. Den sie fortan bissig verteidigen.

Das sollte uns zu denken geben, liebe Freunde, ehe wir zirka 6 Uhr morgens zurückkehren in unser Ferienbungalow-Dorf an der nördlichen Adria. Die Kolleginnen aus Albanien, Rumänien und Afrika südlich der Sahara haben da schon Feierabend gemacht.
Soviel für heute von der Geschlechterfront im Touristenmilieu. Me too. Du mich auch...

-btk- 


IHRE MEINUNG IST UNS WICHTIG! BITTE KOMMENTIEREN SIE BEI
info@bobbys-bazaar-bayern.de

Photo by Israel Peni on Unsplash


Elf Tage im Mai



Montag, 20. Mai 2019




Drei Uhr morgens. Wach geworden von  Iftar-Nebengeräuschen, vom Fastenbrechen, der Mitbewohner über und unter mir. Das passiert im Ramadan öfter. München ist bunt. Noch bin ich im Bezirk Schwabing-West der bayerischen Landeshauptstadt.  Drei Tassen Milchkaffee. Morgendosis  COPD-Therapie. Ich bin chronisch krank. 2  Tabletten, eine  Prise Spray. Koffer packen. Umhängetasche packen. Die Umhängetasche ist vom Pennymarkt Schwabing. So heisst der Laden wirklich. Vor ein paar Jahren hat PENNY Demokratie gespielt. Wie soll die Filiale heissen?  Luitpold-Park, Nord, Schwabing ? Schwabing? Schwabing hat klar gewonnen bei der schriftlichen Kundenbefragung.  Die Wahlbeteiligung blieb geheim. Die 6 Dosen Bier in meiner PENNY-Umhängetasche  sind auch von  PENNY. Stück 39 Cent, Pfand 25 Cent. Diesen Preis erwähne ich, weil Bierpreise bei meinem bevorstehenden Ausflug noch öfter erwähnt werden.  Wir sind ja im Binnenmarkt der Europäischen Union. Eine Woche vor der Wahl zum Europaparlament. 
Seit gestern fährt nach mehreren Wochen die 27er Tram wieder vom Petuelring zum Kurfürstenplatz. Die dritte langwierige Sanierung dieser Strecke innerhalb weniger Jahre. Hat irgendwas mit billigem Chinastahl zu tun, flüstern die üblichen gut informierten Kreise im Rathaus. Inzwischen entlässt Thyssen-Krupp 6000 Leute. Deren Stahl ist zwar deutlich besser, aber bei (europaweiten) Auschreibungen zu teuer. Auch für Strassenbahnschienen.  2 € 90 für Tram und S-Bahn bis zur Hackerbrücke.  Mein MVV-Gesamtnetz-Ticket gilt leider erst ab 9 Uhr. Da muss übrigens noch jemand  ein Wahlversprechen einlösen von wegen Flatrate  im Öffentlichen Nahverkehr. 
Reiselektüre ist umsonst. Eine Ex-Schwägerin hat mir Gutscheine für die "Süddeutsche Zeitung" geschenkt. So an die 30 Stück. Verschenkte Zeitungen höre ich, zählen bei Anzeigenpreisen genauso wie verkaufte und vom Leser bezahlte. Auflage ist Auflage und Auflage ist Geld. 

8 Uhr 10. Viel zu früh am Busbahnhof neben der Hackerbrücke. Zwei warme Croissants , einer grosser Kaffee. Mit Trinkgeld 7 €. In der SZ Ibiza-Gate. Publizistischer Schlag gegen Rechtspopulisten.  FPÖ-Vizekanzler Strache tritt zurück, Regierungskrise in Österreich. Die Bilder auf dem Belastungsvideo sind rund zwei Jahre alt und werden passgenau zur Europawahl veröffentlicht. Von SZ und Spiegel. Es giesst in Strömen. 

Zwei Stunden später, in Salzburg, giesst es immer noch. Die Österreicher sprechen von Schnürlregen, klingt netter. 

Lockere Grenzkontrolle durch österreichische Beamte. Mir scheint, wir sind noch ein paar Meter auf bayerischer Seite dieser europäischen Binnengrenze .Ein Grenzer prüft Ausweise, ein zweiter steht und geht dicht hinter seinem Kollegen. Die rechte Hand ziemlich griffbereit nahe an der Dienstpistole. Schräg gegenüber von mir fällt ein Tütchen Gras auf den Busboden. Ein modischer Sneaker deckt das Teil unbefangen ab. 

Dann zufällige Routine, sicher kein Alltagsrassismus: bei stärker pigmentierten oder sonstwie von der ordnungspolitisch gewollten Norm  abweichenden Fahrgästen tippt der Kontrolleur die Ausweisnummer oder das Geburtsdatum ins Diensthandy. Kann ich nicht genau erkennen. Aber wenn er tippt, tippt er länger. 
Bei der Raststätte Tauern 20 Minuten Aufenthalt. Geht, genauso wie der  zweite Busfahrer an Bord, auf eine EU-weite Regelung zurück. Gut so. Für mich einen kleinen  Verlängerten to go, vulgo Kaffee mit Milch im Miniplastikbecher. Ungefähr soviel Kaffee, wie in ein doppeltes Schnapsglas passt. Milch dazu auf Selbstbedienungsbasis: 3 € 95. Da ist die ökologisch verantwortungsvolle Entsorgung des Bechers zuverlässig eingepreist.  Heisst das Autobahn-Rasthaus wirklich Landlust? Ironie off.
Villach, Udine. Zwei weitere Haltestellen, eine Zigarette. Die Flixbusfahrer sprechen nur noch kroatisch. Miteinander sowieso, mit den ein- und aussteigenden Fahrgästen auch.

Der Busbahnhof von Triest ist eine grosse,  reichlich heruntergekommene Halle,  gleich neben dem neoklassizistischen, sorgfältig restaurierten Hauptbahnhof aus der Zeit der k.u.k. Monarchie. Solche Bahnhöfe gibt es von Lemberg, heute Ukraine, bis Bratislava, heute Slowakei, überall, wo jemals die Fahnen mit dem Doppeladler flatterten. 

Jetzt noch 25 Minuten mit dem Regionalbus. Wir können gleich in der Bushalle  in die Linie 51 umsteigen. 18 Uhr 30: Arivva! Duino-Aurisina, unser Zielort. Es giesst wieder in Strömen. 


Dienstag, 21. Mai 2019




Gestern hat Gianni noch Heizung für's mobile home gebucht. Kostet 7 € pro Tag. Spannbettücher und Laken, damit die Wolldecke nicht so kratzt: weitere 22 €. WLAN  für zwei Wochen: 33 €. Unser Frühbucher-Schnäppchen in der Vorsaison  verteuert sich ständig. Endreinigung 50 €. Aber sauber machen und ein letztes Mal Geschirr waschen vor dem Auschecken müssen wir schon selber. Wetter App sagt: Sistiana 9 Grad. Regenwahrscheinlichkeit  90 Prozent. Na ja, nicht jeder Tag ist gleich. Wir trinken slowenisches Lasko-Bier, im Espar-Markt 1 € 80 die Flasche. Franziskaner Weißbier gibt's für 2 € 60 im gleichen Laden.   
Es giesst in Strömen. Na ja,nicht jeder Tag ist gleich.

 


...kurze Pause !

Das weitere Tagebuch steht vorerst nur in einem vollgekritzeltem Schulheft. Ich hab einen ganzen Stapel solcher Hefte. War ein Sonderangebot von McPaper zum Schulanfang im vergangenen Jahr.

Das reale Leben drängt herein und verhindert die Arbeit auf meinem digitalen Dashboard. Etwas Geduld bitte, wenn`s länger dauert mit dem Freischalten als geplant. Das reale Leben heisst Iveta und ist 20 Jahre alt. Analog, warm, dreidimensional. Hinterlässt täglich  lange, schwarze Haare in der Badewanne. Und meistens scheint die Sonne...

Also, jetzt ist der August auch schon bald vorbei. Das mit dem Tagebuch aus der zweiten Maihälfte wird nix mehr. Die Texte sind fertig, kommen mir aber irgendwie ranzig vor. Schlimmer als alte Butter. Zuviel ist seitdem passiert, zuviel habe ich gelesen, gehört, gelernt und erlebt seitdem. Der Küstenregion zwischen Monfalcone und Triest werde, muß ich mich anders wieder nähern.


-btk-

Venezia 1972. 

Mit Anna und Ali

Ali Trabilsy wohnte in einem Studentenheim an der Karl-Theodor-Straße. Kennengelernt habe ich ihn bei einem Job, den wir beide über den Studentenschnelldienst vermittelt bekamen. Ich war etwas erstaunt, denn Ali hatte an dem Tag eine viel höhere Nummer als ich an dieser Jobbörse für klamme Nachwuchsakademiker. OK, meine Nummer war auch nicht toll, weil ich verschlafen hatte. Aber ich war von "Beruf" Werkstudent, junger Familienvater und fast immer pleite. Deshalb (?) hat mich eine der Vermittlerinnen oft schamlos bevorzugt bei der Jobvergabe. Auch während der eher anarcho-syndikalistischen  Phase der Studentenrevolte waren stets einige Tiere gleicher als die anderen. Klarer Fall von Korruption im Alltag. Die Vermittlerin hatte ein vierjähriges Kind und war sehr jung. Das Kind hieß Ruth. Ich war nicht ganz so jung und hatte ein dreijähriges Kind. Das hieß Esther. Die Korruption bestand darin, daß die Vermittlerin mir die bestbezahlten und tollsten Jobs reservierte, egal, ob meine Nummer schon dran war oder nicht. Jeder Jobsuchende bekam nämlich vor der Vermittlung eine Nummer, in der Reihenfolge des Erscheinens. Frühaufsteher sollten belohnt werden. Ich spielte wegen meiner Privilegien regelmäßig Babysitter für Ruth. Esther war oft dabei. Der Name der Vermittlerin tut nichts zur  Sache. Einer meiner verlässlichsten Freunde, der Rechtsanwalt-Werner, hat mich ja wiederholt vor unnötiger Geschwätzigkeit und deren presserechtlichen Folgen gewarnt.

Die Schamlosigkeit bestand darin, daß wir, wenn sich andere Babysitter für Ruth und Esther fanden, nackt am Flaucher oder Eisbach badeten, sonnten und uns unnötig oft am ganzen Körper eincremten. Dazu ziemlich viel kifften und, falls wir nicht vorher schon emotional und sexuell im Nirwana gelandet waren, ziemlich ausdauernd "Liebe machten". Make love, not war,  ein prägendes Motto des Jahrzehnts vor Aids

Wir wollten unsere sensiblen Seelen nicht mit schmutzigen Worten wie Bumsen oder Ficken verstören.



Bis sich durch die allseits im nackten Zustand gemachte Bekanntschaft mit einer österreichischen Studentin der Theaterwissenschaften ein zwar vulgärer, aber gleichwohl cooler Begriff für unser Treiben durchsetzte, den wir alle drei akzeptieren und praktizieren konnten. Die Österreicherin erzählte, nein, spielte eine Szene im Schilf des Neusiedler Sees. Ein Pärchen wälzt sich stöhnend, schweißgebadet, festumschlungen am schlammigen Ufer. Sie:"Liebst Du mich?" - Er knallt ihr eine, mit aller Kraft. "Hearst, Schatzi, i mog kaan Plausch beim Pudern!" Darauf er und sie:".........." ( Es folgen anhaltende Orgasmusgeräusche, Lautschrift nicht verfügbar...) Den Rest des Sommers, wenn es sich denn ergab, puderten wir dreisam, jedoch selten schweigend.

....kurze Unterbrechung...Alltagsgeschäfte...Melde mich demnächst wieder...


Trabilsy also. Der Job sollte in zwei Tagen beginnen, war extrem gut  bezahlt, Dauer zwei bis drei Wochen. Wir hatten nach Schließung der Jobbörse von mittag bis abends Zeit, im Englischen Garten einen selbst ausgedachten  Dreiakter einzustudieren. Die gelegentlich leicht dominante Theaterwissenschaftlerin führte Regie und spielte mit. Ziemlich ermattet kam ich in später Dämmerung zu dem christlichen Studentenheim, wo Trabilsy wohnte. Nur meine österreichische Spielgefährtin hatte Zeit, mich zu begleiten. Die Dritte im Bunde mußte heim zu Ruth, die mit ihrer Oma schon auf Mama wartete.

Im Hinterhof des aus Kirchensteuermitteln finanzierten Studentenheims standen etwa 30 junge Araber um einen überdimensionierten Grill. Zwei der Muselmanen drehten ein ganzes Lamm mit Muskelkraft über der Glut. Ein Biergartentisch, vollgepackt mit CousCous, Falafel, Fladenbrot, frischen Feigen und riesengrossen gedünsteten Metzgerzwiebeln, die mit Lamm-Hackfleisch, Kräutern und Knoblauch gefüllt waren. Kalte Gurkensuppe. Musikalischer Rahmen: die aktuelle Hitparade von Radio Cairo. Oder Damaskus? Oder Beirut? Ein zweiter Tisch mit Flugblättern pro PLO. Darüber spannte sich ein Transparent, befestigt an Sonnenschirm-Ständern. Text: Tod den Zionisten. Außer den Flugblättern gab es am Tisch eine Kasse und Biographien arabischer Märtyrer sowie von Yassir Arafat, dem Chef der Palestinensischen Befreiungsorganisation, eben kurz PLO. Das Impressum wies bei einigen der Pamphlete die studentischen Gruppen von DKP, SPD und beider christlicher Volkskirchen der alten Bundesrepublik aus. Die Grünen hatten sich noch nicht gegründet. Bei den Büchern stand zum Teil als Druck-  und Verlagsort hinterm Deckblatt: Druckerei Erich Weinert, Neubrandenburg. Das lag damals in der DDR. Die Kasse wurde bewacht von einer ziemlich hübschen lutherischen Berufsjugendlichen. Außer den Arabern waren noch einige deutsche Studentinnen und Studenten da, die entweder Soziologie oder Germanistik studierten. Ihr Standardschmuck war ein Che-Guevara-Button oder ein Kettchen mit dem Peacesymbol.

Im Schatten der hinteren Hofwand: eine geradezu antik anmutende Zinkwanne auf geschwungenen Löwenfüßen, randvoll mit Wasser und Eis. Darin sehr wenige Colaflaschen und sehr viele Augustiner Hell. Trabilsy erklärte mir, Edelstoff sei nicht das Wahre, man müsse beim Kauf von Augustiner sehr auf die Grünen Etiketten des einfachen Hellen achten. Kritische Einwände bezüglich der Unvereinbarkeit von Islam und Alkoholgenuß entkräftete er mit einer müden Drehung seines Oberkörpers. Augustinerbräu sei erst im Jahre 1328 in München gegründet worden, Der schon 632 nach christlicher Zeitrechnung ins Paradies berufene Mohammed  -  Allah segne ihn und schenke ihm Heil  -  hätte es folglich auch nicht verbieten können. Der Prophet hätte derart Unsinniges sicher auch nicht gewollt. Davon war mein künftiger Kollege überzeugt. 

Die Party entwickelte sich ziemlich gut. Das Buffet war, nach anfänglicher Gewöhnungsbedürftigkeit, extrem lecker, das Lamm vom Grill geradezu sensationell. Statt panarabischer Hitparaden hörten wir bald Stones und Kinks. Zum Kiffen wurde großzügig Roter Libanese, Schwarzer Afghan und Gras von diversen Schwabinger Balkonplantagen angeboten. Wir spendeten dafür in die palästinensische Revolutionskasse am Infotisch. Trabilsy war klar der Älteste von uns, er hatte schon einige silberne Fäden im Schläfenhaar. Er war aus Syrien und wollte bald wieder nach Hause. Hafiz al-Assad, der Löwe aus dem alawitischen Kalabiyyastamm im Nordwesten Syriens, hatte offenbar in jener Zeit einen Machtkampf innerhalb der sozialistischen  Baathpartei für sich und seinen Clan entschieden. Ali war gleichfalls Alawit und hoffte, in Damaskus Chef eines regimetreuen Radiosenders zu werden. In München war er im Fach Zeitungswissenschaften an der Ludwig-Maximilians-Universität immatrikuliert. Ich kam kurz ins Grübeln. 

Das "Institut für Zeitungswissenschaft",  untergebracht in den oberen Stockwerken des Amerikahauses am Karolinenplatz,  wurde damals geleitet von dem feinsinnigen, hochgebildeten, stockkatholischen, konservativen  Professor Otto B. Roegele. Die seinerzeitige Quasi-Staatspartei CSU legte Wert darauf, daß alle wichtigen Spitzenpositionen in Bayern mit Leuten ihrer "Couleur" besetzt waren. Was in den Etagen darunter geschah, interessierte die Christsozialen kaum. Womöglich hatten die führenden Schwarzen einfach nicht begriffen, daß im Mittelbau die eigentliche Arbeit geschieht und künftige Eliten geprägt werden. So war der junge, hochbegabte, ehrgeizige Wissenschaftler Dr. Peter Glotz Roegele`s Stellvertreter. Glotz war engagierter Sozialdemokrat. Seine Helfer und engsten Mitarbeiter hießen Mahle und Langenbuchner. Beide SPD. Der spätere Feullitonredakteur der Abendzeitung, Gerd Gliewe, einer ihrer Gesinnungsgenossen und Lieblingsstudent. Ein Fachschaftsvorsitzender jener Zeit war Türke, Kommunist und pflegte Kontakte zur kurdischen PKK, die heute als terroristische Vereinigung in Deutschland verboten ist. Den Namen dieses Mannes verschweige ich. Nicht, weil mich Rechtsanwalt-Werner in dieser Sache nervt. Nein, der Türke hat einen Prozess gegen das CSU-Parteiorgan "Bayernkurier" gewonnen, wegen eines Artikels, der wahrheitsgemäß über ihn berichtet hatte. Mit welchem Geld? Hat er, als mittelloser Student, den Prozeß selbst finanziert?  Egal, das CSU-Blatt mußte zähneknirschend eine Gegendarstellung drucken. In der türkisch geführten Fachschaftsphase gab es eine interessante Umfrage. 80% der jungen Zeitungswissenschaftler stuften sich selbst als Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten, Syndikalisten, Maoisten, Symphatisanten Fidel Castros und der südamerikanischen Guerrilleros ein.( Heute ist das anders. Ein geflügeltes Scherzwort besagt: Alle 7 Minuten verliebt sich ein Journalist in den Grünen-Chef Robert Habeck und schreibt oder sendet dann auch entsprechend.) Trabilsy gehörte zu diesen 80%. Die Umfrage war anonym und einer der Fragebögen wurde von Brigitte Mohnhaupt ausgefüllt, deren Steckbrief bald in jedem deutschen Postamt hing. Sie war zum Führungskader der Roten Armee Fraktion( RAF ) aufgestiegen. Am Institut galt sie vielen als graue Maus, total unauffällig. 

Dr. Glotz war eigentlich immer da. Er wurde später Bundestagsabgeordneter im münchner Norden, SPD-Bundesgeschäftsführer, Unirektor und Professor. Wenn Dr. Glotz mal nicht da war, waren Langenbuchner und Mahle da. Jeder kann googeln, was aus ihnen geworden ist. Glotz war ein begnadeter Vielschreiber. Jahre später, als er zu einer SPD-Sitzung in Bonn zu spät kam, knurrte ihn sein Fraktionsvorsitzender Herbert Wehner an:"Na, Peter, heute schon ein neues Buch geschrieben?" Glotz war wegen eines Staus statt um 10 Uhr erst um 10 Uhr 20 erschienen.

Professor Roegele war selten da. Er hatte einen wichtigen Posten in Köln, als Herausgeber des "Rheinischen Merkur", der ehemals einflußreichen  Wochenzeitung der katholischen Bischöfe Deutschlands. Mein syrischer Kollege Trabilsy studierte am Institut "bei Roegele", wie man damals zu sagen pflegte. Bewußt hat er Roegele nie gesehen oder gehört, wozu auch. Seine Lehrer waren Glotz, Mahle, Langenbuchner. Er war ja künftiger Führungskader der panarabisch-sozialistischen Baathpartei in Syrien. In zwei Tagen sollte unser gemeinsamer Job beginnen. Ali hatte den Auftrag bekommen, nachdem er meiner wirklich gutherzigen Vermittlerin vorgeweint hatte, er habe in Syrien vier kleine Kinder und sei politisch verfolgt. Deshalb spielte seine hohe Nummer beim Studentenschnelldienst ebenso wenig eine Rolle wie die meinige. Wenigstens Mitleid und nicht Schamlosigkeit und Korruption. Ich war eifersüchtig auf Trabilsy und wollte es mir nicht eingestehen.

Der Job war nicht allzu schwer. Wir mußten zahlreiche Lastwagenladungen voller gebrauchter Matratzen von hinten in Desinfektionskammern füllen. Warten, nix tun, bis sie durch heißen Dampf keimfrei waren. Matratzen vorne wieder raus, in Folien stecken , wieder aufladen. Zwei Wochen und 1000 Matratzen später gab`s Geld. Ziemlich viel cash. Sogar ohne Quittung. Durch einen dummen Zufall sollte ich erfahren, daß wir die Betten von TBC-Kranken aus Lungenheilstätten desinfiziert hatten. Ohne es zu wissen. Ohne Atemschutz. Ohne ärztliche Nachkontrolle.Ist nix passiert. Die Firma ist hochangesehen und steht noch heute im Telefonbuch. Der Rechtsanwalt-Werner...gähn...ich sag ja schon garnichts mehr...

Ali Trabilsy hatte einen schwarzen Mercedes gekauft. Bei einem syrischen Autohändler an der Wasserburger Landstraße. Gebraucht natürlich. Beide bekannten sich zur alawitischen Religion, wie ihr gemeinsamer Präsident Assad. Ali kaufte drei Fernseher. Ali kaufte zehn Radios mit Ferritantenne, die sowohl mit Akku als auch im Netzbetrieb funktionierten. Ich hatte mich mit Ali während des Matratzenjobs beinahe angefreundet. Er bat mich, ihn und den Mercedes von München nach Mestre zu chauffieren. Ali hatte keinen Führerschein, jedenfalls keinen in Westeuropa gültigen. Er versprach mir zwei Bahnkarten 1. Klasse zur Rückfahrt. Anna, mit mir verheiratet und Mutter unserer Tochter Esther, sollte mitfahren. Er würde für alle unsere Kosten bis zum Ablegen der Autofähre Venedig-Mestre nach Alexandria in Ägypten aufkommen. Ein paar Tage kostenloser Urlaub für euch zwei, lockte Ali. Als  Anna klar gemacht hatte, daß Esther während unserer Reise bei Oma und Opa willkommen und gut behütet wäre, fuhren wir los. Der Mercedes lag tief auf der Straße, hoffnungslos überladen. Auf dem Dachträger, den Ali ebenfalls gekauft hatte, türmten sich Kisten und Säcke. Der Kofferraumdeckel ging nur zu, wenn sich zwei Männer gleichzeitig mit vollem Schwung draufsetzten. Außerdem hatte der Wagen keinen TÜV und ziemlich abgefahrene Reifen. Dafür aber Nummernschilder von der syrischen Botschaft, die uns irgendwie exterritorial wirken ließen. Die Bahntickets steckten in einem Kuvert, das ebenfalls von der Botschaft stammte. Wir quetschten uns in den schwarzen Daimler und fuhren los. Wenigstens zwei Kilometer weit. Dann mußte ich anhalten und den Reifendruck an die Grenze des gerade noch Möglichen erhöhen. Der Junge an der Tankstelle schüttelte fassungslos den Kopf. Jetzt konnte ich statt 40 schon bis 60 oder 70 Stundenkilometer beschleunigen, ohne daß unser Autoboden bei jeder kleinen Unebenheit die Fahrbahn schrammte. Ali Trabilsy`s Papiere halfen, zu meinem grenzenlosen Erstaunen, beim Passieren der österreichischen und italienischen Grenzen. Damals war Österreich noch wirklich  neutral und nicht in der EU beziehungsweise EWG. Auf der Autobahn überholte uns jeder Sattelschlepper, jeder Cinqucento, jede 2 CV-Ente mühelos, sogar bei Steigungen. Nach der gut dreifachen Fahrzeit, wie für einen PKW üblich, erreichten wir ohne Achs- und Federbruch, mit nur leicht verbeulter Ölwanne, endlich Venedig. 

Der erste Tag und die erste Nacht von "den paar Tagen kostenlosem Urlaub" für Anna und mich waren geschafft. Den Wagen ließ ich am Bahnhof von Santa Lucia stehen. Auf touristische und kunsthistorische Exkursionen hatte nach dieser Nacht keiner von uns mehr die geringste Lust. Wir fuhren mit Vaporetto und Fähre nach Punta Sabbioni und weiter ein paar Busstationen zu einem öffentlichen Strand. Baden, sonnen,  schlafen, nur wenige Drinks. Spaghetti und Pizza in einem Touri-Schuppen, eher schlechter als im Bella Italia an der Leopoldstraße, aber deutlich teurer. Natürlich pane e coperto. Und das, obwohl die  meisten münchner Italiener wegen der Olympischen Sommerspiele ihre Preise kürzlich fast verdoppelt hatten.

Am nächsten Tag zurück über den Damm aufs Festland, nach Mestre. Auf dem Pier zur Alexandriafähre standen um 7 Uhr früh schon gut 200 arabisch wirkende Männer, vor dunstigem Himmel, und genau soviele Mercedes, BMW und Ford Transit. Alle ähnlich beladen wie Ali`s alter Daimler. Um 8 Uhr begann die Zollabfertigung. Die meisten der schwarzgelockten Passagiere hatten die Nacht in oder neben ihren Autos verbracht. Viele trugen Bart und Palästinensertücher, waren gekleidet in Dschellabas. Jeans, Lederjacken und gestickte Gebetskappen schienen die zweite Art von Uniform zu sein. Im Abfertigungscontainer prüften zwei italienische Beamte, einer vom Zoll, einer von der Grenzpolizei, mit einem äußerst mediterranem Verhältnis zur Effizienz, Fahrzeug- und Frachtpapiere, Carnets sowie Paßdokumente aus fast allen Ländern der Arabischen Liga. Der Tag zog sich hin. Wir schickten im Stundentakt den kleinen Bruder eines heimkehrwilligen Palästinensers um Cola oder Tramezzini an  Land. Wechselgeld, gleich in  welcher Höhe, behielt der Junge stets für sich. Endlich war ich in der Zollbaracke und radebrechte Italienisch. Trabilsy`s syrische Botschaftsstempel verfehlten auch hier nicht ihre Wirkung. Die Einschiffung schien reibungslos zu klappen.

Der Zöllner ließ seinen Stempel fallen, mit halb geöffnetem Mund. Auf der Mole plötzlich ein Höllenspektakel. Die Araber tanzten, umarmten sich, trampelten, schrieen, stiessen Fäuste in die Luft. Trabilsy tanzte begeistert mit.Vielen  Männern liefen Tränen über die Wangen. Freudentränen.

Über Kurzwelle hatten einige der Männer vom Olympia-Attentat und der Geiselnahme israelischer Sportler durch die Terrortruppe "Schwarzer September" gehört. Sie bejubelten den Sieg der gerechten arabischen  Sache. Ali übersetzte mir einige der skandierten Parolen. "Tod den Zionisten! Treibt die Juden ins Meer!" waren noch die harmloseren Äußerungen. Binnen Minuten sperrten motorisierte Carabenieri Kai und Mole. Die hysterische Menge beruhigte sich angesichts von zehn Jeeps voller Uniformierter mit Maschinenpistolen im Anschlag. Ironischerweise alle der Marke UZI, made in Israel.

Anna`s und mein Verhältnis zu Trabislsy war zerrüttet. Ich holte die noch fehlenden Stempel. Ali wollte mich umarmen. Ich hielt ihn mit ausgestreckten Armen auf Distanz. Anna drehte sich um und ging. Ich trottete ihr schweigend nach. Wir wollten einfach nur weg.

Trotzdem und trotz Erster-Klasse-Tickets dauerte die Heimfahrt noch länger als die Anreise. Solidaritätsstreik der italienischen Eisenbahner. Solidarität mit dem Volk von Palästina? Hoch die internationale Solidarität. In München wurden derweil die "heiteren Spiele" fortgesetzt. Bei der Geiselnahme und einem verpfuschten Polizeieinsatz am Bundeswehr-Fliegerhorst Fürstenfeldbruck starben elf iraelische Sportler, fünf Terroristen und ein Polizist. Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und der damalige Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) versicherten ihre Anteilnahme. Die drei überlebenden Terroristen wurden bald ohne Gerichtsverfahren nach Libyen ausgeflogen und gaben dort, unterstützt vom Gaddafi-Regime, erst mal eine Pressekonferenz. Vorangegangen war die Entführung einer Lufthansa-Maschine auf dem Flug nach Frankfurt durch ein PLO-Kommando. Erpressung des Rechtsstaats durch Terror. Im Verlauf der folgenden Jahre wurden die Attentäter und ihre Hintermänner vom israelischen Geheimdienst liquidiert. Auch ohne Gerichtsverfahren. 

Auge um Auge, Zahn um Zahn.


-btk-



IHRE MEINUNG IST UNS WICHTIG! BITTE KOMMENTIEREN SIE BEI
info@bobbys-bazaar-bayern.de

Der Zorn Gottes

Er ist friedlich eingeschlafen in seiner Wohnung. In einem strahlend weißen Bauhaus-Kubus in der Altstadt von Tel Aviv. Der Verstorbene, von dem wir hier berichten wollen, erreichte ein gesegnetes  Alter von 87 Jahren. Das war angesichts seiner Biographie nicht unbedingt zu erwarten. Auf seinem Klavier stand immer eine hölzerne, samtgefütterte   Schatulle mit Sichtfenster. Drin lag eine Beretta-Pistole. So wurde es mir in Tel Aviv erzählt. Arabische Terroristen und Agenten, die in ständiger Angst vor ihm lebten, nannten ihn bei seinem Spitznamen:  Humphrey Bogart. Er liebte die schönen Künste. Er liebte die französische Kultur. Nicht zuletzt die französische Esskultur. Er war ein großer Opernfreund. Er fand offenbar auch das musikalische Werk des Antisemiten Richard Wagner beeindruckend, die italienischen Meister des Genres sowieso. #Siehe auch "Wagner & Walhalla", Text und Film auf der Themenseite "Europa"

Er war einer der erfolgreichsten Geheimagenten des seit seiner Gründung stets bedrohten, oft in seiner Existenz gefährdeten Staates Israel. Er war Sabre, in Israel geboren. Nicht eingewandert, wie die meisten jüdischen Landsleute seiner Jahrgänge.  Mike Harari.

Harari ließ die überlebenden drei Täter und die Hintermänner des Olympia-Attentats in  München 1972 aufspüren und töten. Alle. Die Aktion trug den Namen "Zorn Gottes". Die Vergeltung war von höchster Stelle, von der israelischen Regierung, angeordnet. Harari war Chef der Sondereinheit "Caesarea" beim israelischen Geheimdienstes Mossad.  Zu "Caesarea" gehörte ein von Harari gegründetes Killerkommando namens "Kidon". "Kidon" ist Ivrith, modernes Hebräisch, und bedeutet in etwa "Speerspitze" oder "Bajonett". Bei der Verfolgung der Olympia-Terroristen unterlief Harari und den Männern von "Kidon" ein schrecklicher, ein tödlicher Fehler. Statt Ali Hassan Salameh, dem Anführer der Attentäter-Gruppe "Schwarzer September", wurde in Norwegen ein völlig unbeteiligter marokkanischer Kellner ermordet. Harari wollte sofort zurücktreten, aber die damalige israelische Ministerpräsidentin Golda Meir lehnte ab. Ihre Begründung: "Es bleibt noch viel zu tun!"

*****

Tel Aviv bedeutet "Frühlingshügel". Der Name ist einer poetischen Übersetzung des  utopischen Romans "Altneuland" von Theodor Herzl entliehen. So steht es auf Wikipedia.

Herzl gilt als Begründer des Zionismus, einer Bewegung, die sich Ende des 19. und im 20. Jahrhundert die Neugründung des Staates Israel zum Ziel gesetzt hatte. Er war ein österreichisch-ungarischer Journalist, Publizist und Schriftsteller jüdischen Glaubens. 1896  erschien sein Buch "Der Judenstaat", das Herzl angesichts von wachsendem Antisemitismus in vielen Ländern Europas geschrieben hatte.

Krka & Sibenik

Text wird in Kürze freigeschaltet

Sentiero Rilke

Text wird in Kürze freigeschaltet